In der Onlineberatung erreichte mich die Mail von Mia:
Hallo Birgit,
mein Wunschgewicht wäre zwischen 48-50 kg (ich bin 1,65 groß und wiege grade 60 kg) und ich würde am liebsten die gleiche Figur wie Gigi Hadid, Kendall Jenner oder Charli D´Amelio haben. Sie sind wie beste Freundinnen für mich und wenn ich mein Wunschgewicht hätte, würde ich genauso selbstbewusst sein wie sie. Ich wäre motivierter und würde mich nicht die ganze Zeit unwohl fühlen … Mia
Wenn Sie nun drei Fragezeichen im Gesicht haben und nicht wissen, wer Gigi Hadid, Kendall Jenner und Charli D´Amelio sind, geht es Ihnen wie mir. Alle Frauen drei sind Influencerinnen mit und das Model Gigi Hadid hat mehr als 70 Millionen Followerinnen und Follower auf Instagram.
Eine neue Art von Freundschaft
Mia ist nicht allein. Online-Beratende berichten in Fortbildungen und Supervisionen, von Mädchen und Frauen, die sie beraten, die ebenfalls auf Instagram ihre „Freundinnen“ haben. Instagram ist weit mehr als nur ein Ort, um Bilder und Videos zu teilen. Mit 26 Millionen Nutzenden allein in Deutschland (2021) , davon ein Großteil zwischen 13 und 35 Jahren, ist es eine Plattform, die tief in unsere Kultur eingedrungen ist.
Für viele junge Menschen erfüllen soziale Medien wie Instagram das Bedürfnis, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, Meinungen auszutauschen, sich zu vergleichen und sich über Neuigkeiten zu informieren. Dabei geht es nicht nur um das Teilen von Momenten, sondern auch um das Suchen von Vorbildern und Inspirationen.
Influencerinnen und Influencer, mit ihren glänzenden Profilen und scheinbar perfekten Leben, werden als authentisch angesehen und haben eine große Wirkung auf junge Menschen, insbesondere auf Mädchen. Sie sind Vorbilder und häufig auch beste Freundinnen. Sie sprechen ihre Sprache, beschäftigen sich mit denselben Themen und beraten sie, wenn sie Kummer haben. Anders als die Stars von früher, die auf einem Poster im Kinderzimmer hingen, treten die Influencerinnen mit ihnen in Verbindung.
Intimität in der digitalen Welt
Influencerinnen bauen eine Nähe auf, indem sie auf ihren Fotos und Videos intime Einblicke in ihr Leben, ihren Kleiderschrank, ihre Handtasche, ihr Badezimmer und ihre Ernährung gewähren. Sie erreichen damit eine Gruppe von Mädchen und jungen Frauen, die mit dem „ständig fotografiert werden“ groß geworden sind und für die diese Form der Selbstdarstellung zum Leben gehört. Influencerinnen sitzen mit am Küchentisch und haben Zugang zu den Kinderzimmern. Sie sind immer da und erfüllen damit ein Kriterium für eine beste Freundin.
Auch andere Freundschaftskriterien wie „Ich weiß vieles über dein Leben, kenne die Themen, mit denen du dich beschäftigst und nehme an Ereignissen aus deinem Leben teil“, erfüllen Influencerinnen.
Influencerinnen sind allerdings auch „lebende Litfaßsäulen“, die Produkte verkaufen und ihre Person als Werbefläche anbieten. Anders als ein Werbespot sind sie weder als solcher gekennzeichnet noch verschwinden sie nach einem Augenblick.
Digital Natives: Aufwachsen in der Ära von Instagram & Co.
Digital Natives trennen analoge und digitale Welten nicht; sie kombinieren sie miteinander. So sind sie groß geworden. YouTube, Instagram, TikTok und Videospiele gehören zum Alltagsleben, dort kommunizieren sie, stellen sich dar, finden Peers, schließen Freundschaften und pflegen diese. Mädchen schließen mehr Freundschaften über soziale Netzwerke und Jungen mehr in Online-Foren für Videospiele.
Es spielt keine Rolle, ob sie sich zuhause besuchen oder sich auf Instagram begegnen, beides ist real. Nähe und Distanz werden nicht nur über die physische Begegnung vermittelt, wie wir aus der Onlineberatung wissen. Online-Freundschaften sind nicht grundsätzlich weniger wert! Der Philosoph und Freundschaftsforscher Daniel Tyradellis bestätigt dies: „Man hat sich womöglich niemals im Leben getroffen und doch gehörten diese Menschen unter Umständen zu den kostbarsten Freunden, die man je im Leben hatte“.
Auch der Soziologe Felix Elwert macht keinen Makel an Online-Freundschaften aus: „Wenn ich einen Freund, meinen besten Freund, nur alle sechs Monate sehe oder ich habe einen Freund, den sehe ich nie persönlich, aber interagiere mit dem über E-Mail und Facebook jeden zweiten Tag – dann bin ich nicht bereit zu sagen: Der eine ist ein ‚echter Freund‘ und der andere ist es nicht.“
Ein komplizierter Beziehungsstatus
Was ist Freundschaft? Intensive Freundschaften, beste Freundschaften, oberflächliche Freundschaften, Freundschaft Plus, profitable Freundschaften … Freundschaften sind vielfältig und individuell. Auch wenn es keine allumfassende Definition von Freundschaft gibt, beziehen sich viele Studien auf Aristoteles, der drei verschiedene Arten ausgemacht hat: Freundschaft aus Lust, aus Nutzen und vollkommene Freundschaft. Die Bedingung für alle drei Freundschaftsformen ist die Wechselseitigkeit der Beziehung, was eine Freundschaft zu leblosen Dingen ausschließt.
Jugendliche fühlen eine Verbundenheit mit den Themen und Werten der Influencerinnen, die sich wie sie für „Fridays for Future“ engagieren, Veganerin sind, sich mit ihrem Aussehen beschäftigen und ähnlich auf das Leben und die Welt blicken. Das schenkt angenehme Momente, Anerkennung und erfüllt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Mit diesem Gefühl grenzen sie sich von anderen ab und bilden ihre Identität, als Entwicklungsaufgabe der Jugendphase. Influencerinnen treten bewusst als Freundin auf, mit der Botschaft: Du kannst so sein wie ich. Sie täuschen Intimität vor und geben sich als Stars zum Anfassen. Dass Influencerinnen nur Werbefläche sind, ist vielen Mädchen und jungen Frauen nicht bewusst. Das lässt vermuten, weshalb Influencerinnen als beste Freundin gesehen werden.
Auch die Wechselseitigkeit der Beziehung, als Freundschaftsbedingung ist bei den Influencerinnen meist nicht gegeben. Es gibt selten einen persönlichen, dialogischen Kontakt. Aber es kommt vor! Und das „spricht“ sich bei den Followerinnen herum und nicht wenige denken: „Wenn Gigi Hadid @mia2005 persönliche Nachrichten schickt, dann schreibt sie mir bestimmt auch“. Diese Fantasie wirkt und hält die Freundschaft aufrecht.
Autorin des Beitrag
Birgit Knatz